Es ist der 27. Oktober 2020. Soeben bei der Haltestelle Bern, Guisanplatz Expo angekommen, bewege ich mich auf das Gebäude zu, in welchem ich in den nächsten Stunden eine der wichtigsten Prüfungen meines Lebens absolvieren werde.

Eineinhalb Jahre lang habe ich mich auf diesen Tag vorbereitet. Das wird mir wieder bewusst, als ich das Gebäude betrete.
Mein Prüfungsraum befindet sich im Obergeschoss. Als ich die Treppe hinaufgehe, laufen die letzten Monate wie ein Film in meinem Kopf ab: Alles begann so gut. Vor eineinhalb Jahren begann ich an der Hochschule Luzern meine Weiterbildung zum Dipl. Manager öffentlicher Verkehr; eine Weiterbildung, die nur alle zwei Jahre stattfindet und hohe Zulassungsbedingungen hat.
Bloß 23 Kandidatinnen und Kandidaten haben die Bedingungen erfüllt und sind zusammen mit mir im Lehrgang dabei.

Ich gab alles für diesen Abschluss. Vom allerersten Tag an lernte ich, was das Zeug hielt. Dabei befolgte ich Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat meinen selbst aufgestellten Lernplan. Dort hielt ich genau fest, wie viele Stunden ich pro Woche meinem Job widmen darf und wie viele Stunden ich lerne. Ich wusste: Wenn ich mich an diesen Lernplan halte, kann am 27. Oktober 2020 nichts schiefgehen.
Dann kam Corona. Dieses Virus veränderte alles.
In meinem Job stieg die Arbeitsbelastung drastisch an. Wir mussten den ganzen Betrieb von 27 Buslinien, 2 Bahnlinien und einer Seilbahn mehrmals umplanen. Es gab viele Tage, an denen ich am Morgen direkt nach dem Aufstehen ins Büro ging und am Abend nach dem Nachhausekommen nur noch Zeit hatte, kurz etwas zu essen und dann ins Bett fiel.
Mein Lernplan wurde zur Makulatur; und damit auch meine Gewissheit, dass ich den Abschluss mit links schaffen werde.
Jetzt betrete ich zusammen mit den anderen Kandidatinnen und Kandidaten mein Prüfungszimmer. Ich weiß, dass ich nicht so gut vorbereitet bin, wie ich es ursprünglich plante. Trotzdem gebe ich natürlich mein Bestes.
Die erste Aufgabe ist noch einfach. Erleichtert schreibe ich die Antwort auf das Blatt.
Doch jetzt werden die Aufgaben immer komplexer und schwieriger. Das war zu erwarten, denn in den Probeprüfungen war es genauso. Doch diesmal ist der Druck bedeutend größer. Ich gerate ins Schwitzen.
Jetzt kommt die erste Aufgabe, bei welcher ich ein völliges Blackout habe. Ich habe keinen blassen Schimmer, was die da von mir wollen. Ich bin mir sicher: Wäre ich ideal vorbereitet, wüsste ich die Antwort. Doch eine ideale Vorbereitung war in der Pandemie nicht möglich.
Das ist der Zeitpunkt, in welchem ich mich an einen der wichtigsten Ratschläge erinnere, die einer unserer Dozenten uns gab.
Überspringe Aufgaben, wenn Du nicht weiterkommst
Ob in Prüfungen oder im Leben allgemein: Manchmal stößt Du auf Herausforderungen, bei denen Du nicht weiterkommst. Was tust Du, wenn Du auf eine solche Aufgabe stößt? Versuchst Du weiter, Dich an die Antwort zu erinnern und die Aufgabe zu lösen? Oder überspringst Du die Frage und beantwortest zuerst die anderen Aufgaben?
Ich gehöre zu den Menschen, die in der Vergangenheit vielleicht zu viel Zeit damit verbrachten, eine schwierige Aufgabe lösen zu wollen. Ich war der Ansicht, ich müsse alles von Anfang bis Ende durcharbeiten.
Doch im Rahmen meiner Weiterbildung riet uns ein Dozent, solche Aufgaben für den Moment einfach zu überspringen. Ganz unabhängig davon, wie gut man vorbereitet ist, es gäbe immer Aufgaben, die einem schwerfallen. Dann sei es wichtig, dies zu erkennen und sofort mit Aufgaben weiterzumachen, die einem leichter fallen, sodass man dort Punkte sammeln kann.
Dieser Rat war für mich Gold wert.
Weshalb ist dieser Ratschlag so wertvoll? Nun, im Leben ist es stets wichtig, „im Schwung“ zu bleiben. Das Newtonsche Gesetz besagt vereinfacht gesagt: „Ein Körper in Bewegung verharrt in Bewegung“. Du kennst das bestimmt: Dir fallen die Dinge leichter, wenn Du „einen Lauf hast“. Um genau das geht es hier.
Wenn Du im Leben etwas erreichen willst, egal ob Du eine Prüfung bestehst, ein Buch schreibst oder ein Unternehmen gründest, ist Schwung das A und O.
Und um diesen Schwung beizubehalten, musst Du manchmal Dinge einfach auslassen. Nur so kommst Du vorwärts.
Das gilt in allen Bereichen Deines Lebens: Wenn Du zum Beispiel Karriere machen willst, musst Du vielleicht mal darauf verzichten, Dein Haus blitzsauber zu halten oder jeden Abend aufwendige Mahlzeiten zu kochen.
Gary Keller schreibt in „The One Thing: Die überraschend einfache Wahrheit über außergewöhnlichem Erfolg„:
Ein ausgeglichenes Leben, in dem kein Bereich vernachlässigt wird – sei es Arbeit, Gesundheit oder Beziehungen – ist ein Mythos. Der Versuch, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, wird Dich davon abhalten, außergewöhnliche Erfolge zu erzielen, denn Erfolg erfordert, dass man einige Dinge zumindest vorübergehend ruhen lässt, damit man sich auf das Wesentliche konzentrieren kann.
Manchmal ist der beste Weg, um Fortschritte zu machen, die Entscheidung, etwas NICHT zu tun.
Das Wunder von Bern
Die Prüfung liegt nun einige Wochen zurück. Ich habe vor einer Stunde Feierabend gemacht und befinde mich jetzt auf dem Fußweg vom Bahnhof zu meiner Wohnung. Von meinen Weiterbildungskolleginnen und -kollegen weiß ich dank unserer WhatsApp-Gruppe bereits, dass heute das Prüfungsergebnis im Briefkasten liegt.
Einige schrieben bereits, dass sie bestanden haben. Andere schrieben, bei ihnen habe es leider nicht gereicht; darunter auch solche, denen ich es zugetraut hätte, dass sie die Prüfung mit links bestehen.
Zweifel machen sich in mir breit, dass es auch bei mir nicht gereicht haben könnte.
Zu Hause angekommen, kann ich es kaum erwarten, den Briefumschlag zu öffnen.
Mit zittrigen Fingern öffne ich den Umschlag und ziehe den Brief hervor.

Es hat gereicht! Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Berg fällt von meinem Herzen.
Für mich ist das die Bestätigung dafür, dass man „mit Schwung“ durchs Leben gehen und sich nicht an Dingen aufhalten lassen soll, bei denen man nicht weiterkommt. Erfolgreiche Menschen wissen das schon lange und ich habe es spätestens bei dieser Prüfung in Bern auch gelernt.